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KuLTisch 2

Abb. von Josef Schelbert

Der Gast

In Algerien ist es unruhig. Alles deutet darauf hin, dass die Araber einen Aufstand vorbereiten. Daru, der Lehrer einer Dorfschule im Hochland, soll einen arabischen Gefangenen in die Stadt bringen. Er sträubt sich. Würden die Franzosen angegriffen, so würde Daru wohl auf ihrer Seite kämpfen. Aber Polizeidienste für sie leisten? Der Gefangene ist über Nacht sein Gast. Muss er ihm da nicht den Weg in die Freiheit eröffnen?

»Hast du Hunger?«

»Ja«, sagte der Gefangene. Daru legte zwei Gedecke auf. Er nahm Mehl und Öl, knetete in einer Schüssel Fladenteig und zündete den kleinen Butangas-Backofen an. Während der Fladen buk, ging er hinaus, um im Schuppen Käse, Eier, Datteln und Kondensmilch zu holen. Als er wieder ins Zimmer trat, war die Dämmerung hereingebrochen. Er zündete Licht an und bediente den Araber. »Iss«, sagte er. Als sie gegessen hatten, sah der Araber den Lehrer an. »Bist du der Richter?« »Nein. Ich behalte dich bis morgen hier.« Später holte Daru ein Feldbett aus dem Schuppen und stellte es quer zu seinem eigenen Bett auf. Der Gefangene legte sich auf die Decken. Als Daru ihn am nächsten Morgen wachrüttelte, schaute er ihn mit einem so angstvollen Ausdruck an, dass der Lehrer einen Schritt zurückwich. »Hab keine Angst. Ich bin’s. Komm und iss.«

Später brachen sie auf. Daru sollte den Gefangenen in die Stadt bringen. Sie machten sich auf den Weg und gelangten nach einer Stunde Wegs an eine Gabelung. Daru steckte dem Araber ein Päckchen hin. »Nimm«, sagte er. »Es sind Datteln, Brot und Zucker drin. Damit kannst du zwei Tage durchhalten. Und da hast du tausend Francs.«

Der Araber nahm das Päckchen, als wisse er nicht, was er mit diesen Gaben anfangen soll. »Jetzt pass auf«, sagte der Lehrer, »das ist der Weg nach Tinguit. Du hast zwei Stunden zu gehen. In Tinguit befinden sich die Behörden und die Polizei. Sie erwarten dich.« Dann zwang er ihn zu einer Vierteldrehung nach Süden. »Das ist die Piste, die über die Hochebene führt. In einem Tagesmarsch kommst du zu den ersten Nomaden. Sie werden dich aufnehmen und beschützen, wie ihr Gesetz es verlangt.« Panische Angst erfüllte das Gesicht des Arabers. »Ich gehe jetzt«, sagte Daru und wandte sich um.

Er war schon ein gutes Stück entfernt, als er stehen blieb und zurückblickte. Der Hügel war leer. Daru zögerte, dann kehrte er um und keuchte erneut die Anhöhe hinauf. Oben blieb er atemlos stehen. Im leichten Dunst entdeckte er den schon weit entfernten Araber mit beklommenem Herzen, der langsam dahin schritt auf dem Weg zum Gefängnis.

                                                                                                                      Nach Albert Camus

Abb. von Josef Schelbert

Brot und Wasser

Der heilige Franz und sein Bruder Masseo trafen sich vor der Stadt zum Essen, wo eine schöne Quelle sprang, und daneben war ein breiter, schöner Stein, der ihnen sehr gefiel. Auf den legten sie ihr Brot, das sie geschenkt bekommen hatten.
»O Bruder Masseo«, sagte der heilige Franz, »wir sind eines so großen Schatzes gar nicht wert«, und diese Worte wiederholte er mehrere Male. Da erwiderte Bruder Masseo: »Wie kann man da von einem Schatz reden, wo so viel Armut ist und es an den nötigsten Dingen fehlt? Hier ist kein Tischtuch, kein Messer, kein Fleischbrett, keine keine Schüssel, keine Hütte, kein Tisch, kein Diener, keine Magd.

 

Da sprach Franz: »Das gerade ist es, was ich für einen großen Schatz halte: Was hier ist, ist durch Gottes Güte bereitet, wie zu sehen ist am Brot, das uns geschenkt wurde, am Steintisch, der so herrlich ist, an der Quelle, die so klar sprudelt. Und darum will ich, dass wir dies alles lieb gewinnen von ganzem Herzen.«

                                                                                                                                              Fioretti

Plakat zu Juri Trifonow “Durst”, Motiv: Walter Martsch

Der Gast beim Bauern

Timofei Ossipow stammt nicht aus unserem Dorf. Man munkelt, seine Eltern seien früh gestorben; ein Onkel sei über ihn Vormund geworden, doch der habe ihn betrogen. Um Haus und Hof habe er das Kind gebracht und ihm die Jugendjahre verleidet, sodass Timofei geflohen sei, weit weg, zu uns in unser Dorf. Dort lebte er verschlossen und trübsinnig und sprach kaum mit einem Menschen.

Doch nach einiger Zeit gefiel ihm meine Schwester; er heiratete sie, hörte auf, sich zu grämen, begann vielmehr zu leben und zu gedeihen und erwies sich nach zehn Jahren vor aller Welt Augen als ein reicher Mann. »Hast du jetzt alles wieder, was du in deiner Heimat verloren hast?«, fragte ich ihn eines Tages. Timofei wurde auf der Stelle bleich, antwortete kein Wort. Da bat ich um Entschuldigung. »Vergib, dass ich so fragte. Ich dachte, jenes Böse sei nun schon lange … vorbei und vergessen.« – »Es ist vorbei, dennoch denkt man daran«, antwortete Timofei.

Ich fürchtete oft, wenn Timofei irgendwo seinen Onkel träfe, er würde Frau und Kinder und allen Glauben vergessen und dem Rachesatan verfallen. Ich betete oft für ihn, dass Gott ihn aus der Sünde des Zorns errette. Das aber verwirklichte sich auf höchst wunderbare Weise.

Eines Tags las Timofei im Evangelium, wie Christus als Gast zum Pharisäer kam, und sie gaben ihm nicht einmal Wasser, sich die Füße zu waschen. In diesem Augenblick begann das Wunder, wovon mir Timofei später erzählte: »Ich blicke um mich«, spricht er, »und denke, was habe ich doch für ein Auskommen. Herr, kämest du zu mir, ich gäbe mich selbst dir hin!« Ihm aber wehte da irgendwoher im Windhauch die Antwort zu: »Ich werde kommen.«

Timofei rannte zitternd zu mir: »Was meinst du? Kann der Herr wirklich zu Gast kommen?« Ich sagte: »Wie liest du in der Schrift darüber?« Timofei spricht: »Es ist immer derselbe Christus, gestern, heute und in Ewigkeit.« »Dann«, sagte ich, »glaub es.«

Seit diesem Tag ließ Timofei einen überzähligen Platz am Tisch bereithalten »für den vornehmsten Gast«. Wer damit gemeint war, das sagte er außer mir keinem Menschen.

Timofeis Warten schien vergeblich. Von Tag zu Tag, dann von Sonntag zu Sonntag, schließlich alle Feiertage erhoffte er immer wieder Christus zu Gast. Doch nichts geschah. Das Christfest kam. Am Heiligen Abend klopfte Timofei bei mir und sagte: »Lieber Bruder, morgen erwarte ich den Herrn, komm auch du.«

Als wir zum Weihnachtsmittag Timofeis Stube betraten, war sie voller Leute von jedem Beruf und Glauben. Alte und Kranke und auch viel armes Volk. Die Tische waren reich gedeckt, nur ein Gast fehlte. Längst hätten wir essen sollen. Timofei ging, saß, stand in quälender Unruhe. Seine Zuversicht geriet ins Wanken. Schließlich begann Timofei das Tischgebet: »Christ wird geboren, lobsinget! Christ ist auf Erden …«

Kaum hatte er dieses Wort gesprochen, als irgendetwas fürchterlich von außen an die Wand schlug, und unversehens sprang die Stubentür auf. Alle Leute wichen verschreckt in eine der Zimmerecken. In der Tür aber steht ein alter Mann, im Lumpen gekleidet. Er zittert und hält sich, um nicht umzufallen, am Türrahmen fest.

Kaum erblickt ihn Timofei, so schreit er auf: »Herr, ich sehe ihn, ich nehme ihn auf in deinem Namen.«

Timofei führt den Alten auf den vornehmsten Platz, seinen ärgsten Feind, den Onkel, der ihn zugrunde gerichtet hatte. »Ich kenne deinen Geleiter«, sagt Timofei. »Das ist der Herr, der gesagt hat, hungert dein Feind, speise ihn mit Brot, dürstet ihn, tränke ihn mit Wasser. Setz dich und bleibe in meinem Hause bis zu deinem Lebensende.«

                                                                                         Gekürzte Fassung nach Nikolai Lesskow

 

Tante Mia

Tante Mia hat sieben Kinder aufgezogen, zwei alte Angehörige gepflegt und dazu einen Bauernhof versorgt. Und in all den Jahren hat sie sich um die Ausgegrenzten im Dorf gekümmert. Immer saßen am Mittagstisch zusätzliche Gäste. Das waren Menschen, die wegen Behinderungen nicht richtig essen konnten. In den Augen der meisten waren es Menschen, die nicht so richtig ins Bild passen, die seltsam sind.

Machten die eigenen Kinder meiner Tante Bemerkungen über diese Gäste oder taten ihren Unmut kund, so antwortete Tante Mia, dass dies ihr Haus sei. Offen für alle, die Gemeinschaft und Hilfe nötig hätten. Wer das nicht akzeptiere, dürfe gerne sehen, wo er sein Essen herbekomme.

Tante Mia bestellt mit fast 80 Jahren immer noch ihre Felder und bekocht die Ausgegrenzten. Ihre Haustür ist immer offen. Ihre eigenen Töchter sagen, dass ihre Mutter ihnen heute großes Vorbild ist. Auch an ihren Tischen säßen mittlerweile Menschen, die am Rande der Gesellschaft ständen.

          Petra Lütticke

                                                                                                                      

Texte und Abbildungen aus dem Buch “Mehr als alles: Geschichten, Gedichte und Bilder für kluge Kinder und ihre Eltern” von Prof. Dr. Hubertus Halbfas, Patmos Verlag 2017

 

 

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