KuLTisch 1
Abb. Rembrandt van Rijn: Abraham bewirtet die drei Engel (Kupferstich 1656)
Das tiefe Atemholen des Friedens
Es mag um das Jahr 1040 gewesen sein, als Magnus Olafson (um 1024– 1047) König von Norwegen war. Das Christentum fasste erst mühsam Fuß; die Menschen dachten und handelten noch, wie es germanisch-heidnischer Art entsprach.
In jenen Tagen hatte der Gefolgsmann Thorfin einen Aufstand versucht und dabei Rögnwald, einen Verwandten des Königs, erschlagen. Nun war der König nach Recht und Brauch verpflichtet, den toten Rögnwald zu rächen, den untergetauchten Thorfin aufzutreiben und Tod gegen Tod auszugleichen. Diese Pflicht war Ehrensache. Würde Magnus Olafson ihr nicht mit allem Eifer nachkommen, seine eigene Ehrlosigkeit brächte ihn um das Königsamt. Also ließ er im ganzen Lande Thorfin suchen. Die Fahndung brachte keinen Erfolg.
Nun begab es sich, dass der König eines Tages zu einem Mahle lud. Noch hatten die Gäste nicht Platz genommen, als ein Mann, verwildert anzusehen und niemanden achtend, zum Tisch des Königs drängte. Zur Verblüffung aller griff er ein Brot vom Tisch und aß einen Bissen davon. Das war ein unerhörtes Verhalten; es missachtete jede Gepflogenheit und alle Rechte des Gastgebers. Erregt sprang der König auf: »Wer bist du?« Der Fremde kaute sein Brot, dann sagte er: »Ich bin Thorfin.« – »Bist du der Jarl (Herzog) Thorfin?« – »So nennen mich die Männer.« Da wird Magnus Olafson bleich und ringt um Fassung. Schließlich sagt er: »Wahrhaftig, Thorfin, bei meiner Ehre hatte ich geschworen, solltest du mir je begegnen, würdest du davon niemandem erzählen können …« Und nach einer bedrückenden Pause: »Doch nachdem, was jetzt geschehen ist, kann ich dich nicht mehr töten lassen. Es muss Frieden zwischen uns sein!« Und er lud den Todfeind an seinen Tisch.
Was war geschehen? Der Rebell und Totschläger Thorfin hatte sich in einem Akt der Überrumpelung Zugang zum Tisch des Königs verschafft. Mit hintersinniger List hatte er Brot vom Tisch des Königs genommen und sogleich gegessen. Warum sollte eine solche Überrumpelung Rache in Frieden wenden? – Todfeindschaft in neue Gemeinschaft? Welche Vorstellungen stehen hinter diesem Geschehen?
Der Vorgang ist unbegreiflich, wenn man nicht weiß, wie hoch bei germanischen Völkern die Tischgemeinschaft geachtet war. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus schrieb, bei den Germanen werde schon der Tisch gedeckt, sobald nur der Schatten eines Fremden in die Türöffnung falle; und niemand brauche auf eine Einladung zu warten.
Die Hochschätzung der Gastfreundschaft schloss die Unverletzlichkeit des Gastes in sich ein. Das konnte handfeste Konsequenzen haben. Jeder, der Gastfreundschaft gewährte, wurde zugleich in die Schwierigkeiten seines Gastes mitverwickelt. Der Wirt geriet gewissermaßen in die Gewalt des Gastes, weil er für dessen Leib und Leben einstehen musste, auch wenn er nicht wusste, wen er in sein Haus aufnahm. Ein Fremder, der abends an die Tür klopfte, konnte ja auch ein Verfolgter sein, und der Gastgeber riskierte mitunter Leben und Wohlfahrt, wenn er den Fremden nun offen wie geheim beschützen musste.
anonymer Künstler
Die Löffel
Ein Rabbi kommt zu Gott: »Herr, ich möchte die Hölle sehen und auch den Himmel.« – »Nimm Elias als Führer«, spricht Gott, »er wird dir beides zeigen.«
Der Prophet nimmt den Rabbi bei der Hand. Er führt ihn in einen großen Raum. Ringsum Menschen mit langen Löffeln. In der Mitte auf einem Feuer kocht ein Topf mit einem köstlichen Gericht. Alle schöpfen mit ihren langen Löffeln aus dem Topf. Aber die Menschen sehen mager aus, blass und elend. Kein Wunder: Ihre Löffel sind zu lang. Sie können sie nicht zu Munde führen. Das herrliche Essen bleibt im Topf. Die beiden gehen hinaus. »Welch seltsamer Raum war das?«, fragt der Rabbi den Propheten. »Die Hölle«, sagt Elias.
Sie betreten einen zweiten Raum. Alles genau wie im ersten. Ringsum Menschen mit langen Löffeln. In der Mitte auf einem Feuer kochend ein Topf mit einem köstlichen Gericht. Alle schöpfen mit ihren langen Löffeln aus dem Topf. Und diese Menschen sehen gesund aus, sind gut genährt und fröhlich.
Der Rabbi schaut genauer hin: Diese Menschen reichen sich gegenseitig die Speise aus dem Topf. Einer gibt dem anderen zu essen. Da weiß der Rabbi, wo er ist.
Russische Überlieferung
anonymer Künstler
Nicht Wohltätigkeit sondern Tischgemeinschaft
Als Jesus an einem Sabbat in das Haus eines führenden Pharisäers zum Essen kam … sagte er zu dem Gastgeber: Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, so lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein. Sonst laden auch sie dich wieder ein, und damit ist alles vergolten. Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie können es dir nicht vergelten … Als einer der Gäste das hörte, sagte er zu Jesus: Selig, wer im Reich Gottes am Mahl teilnehmen darf.
Jesus sagte zu ihm: Ein Mann veranstaltete ein großes Festmahl und lud viele dazu ein. Als das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener und ließ den Gästen, die er eingeladen hatte, sagen: Kommt, es steht alles bereit! Aber einer nach dem andern ließ sich entschuldigen. Der erste ließ ihm sagen: Ich habe einen Acker gekauft und muss jetzt gehen und ihn besichtigen. Bitte, entschuldige mich! Ein anderer sagte: Ich habe fünf Ochsengespanne gekauft und bin auf dem Weg, sie mir genauer anzusehen. Bitte, entschuldige mich! Wieder ein anderer sagte: Ich habe geheiratet und kann deshalb nicht kommen. Der Diener kehrte zurück und berichtete alles seinem Herrn. Da wurde der Herr zornig und sagte zu seinem Diener: Geh schnell auf die Straßen und Gassen der Stadt und hol die Armen und die Krüppel, die Blinden und die Lahmen herbei. Bald darauf meldete der Diener: Herr, dein Auftrag ist ausgeführt; aber es ist immer noch Platz. Da sagte der Herr zu dem Diener: Dann geh auf die Landstraßen und vor die Stadt hinaus und nötige die Leute zu kommen, damit mein Haus voll wird.
Lukas 14,12-24
Texte und Abbildungen aus dem Buch “Mehr als alles: Geschichten, Gedichte und Bilder für kluge Kinder und ihre Eltern” von Prof. Dr. Hubertus Halbfas, Patmos Verlag 2017